Freitag, 1. Januar 2010

böse geister vertreiben

In urnäsch findet das neue jahr zweimal statt. Einmal gemäss dem gregorianischen kalender am 31 dezember. Das zweite mal am 13. Dezember, also gemäss dem julanischen kalender, dem man im appenzell so lange treu war, wie man dem anderen, wie so vielem, widerstand leistete. das alte jahr wird hier, wohl aus sicherheit, zweimal ausgetrieben, mit einem „im spätmittelalter entarteten nikolausbrauch“, wie die tourismus-seite schreibt. Um 5 uhr versammelt man sich auf dem dorfplatz. Was man hier sieht, ist in einer unbestimmten zone zwischen authentizität und darbietung. Anwesend sind viele einheimische aus der näheren region, die nummern der zahlreichen autos verweisen bis in den thurgau – von einer touristischen invasion, wie mir bekümmert angekündigt wurde, merke ich nichts. Noch brennen die lichter der gasthöfe um den asphaltplatz, dann tritt ein mann mit weissem schnauz vor und bittet mit lauter stimme, die „psondere magie“ des moments der bald folgen werde, nicht mit blitzlichtern zu zerstören, während des rituals sparsam damit umzugehen, während des gesangs ganz darauf zu verzichten. Es schlägt 5 uhr, das licht in den umstehenden häusern wird auf einen schlag ausgemacht. Im dunkeln sieht man, wie sich der kreis der zuschauer auf beiden seiten öffnet. schemen, offensichtlich mit glocken, „schellen“, auf dem rücken hüpfen geräuschvoll in die mitte des platzes. Die männer tragen an breite gurten befestigte glocken auf dem rücken und vor dem bauch. zum teil sind es mehr als 10 glocken pro mann, kopfgrosse, zum teil ist es eine, die dafür scheint so gross wie ein halber mann zu sein. Diese schellen werden mit vollem körpereinsatz geschüttelt, geschwenkt. ein markerschütternder lärm erfüllt den platz. Doch dann verstummen sie, die männer beginnen im kreis zu stehen und stimmen einen gesang an, der dem jodeln gleicht, doch feiner ist. Die stimmung ist äusserst intensiv. Das frühe aufstehen, der lärm, der unsere nerven in aufruhr gebracht hat und nun dieses sanfte „säuerlen“ der dunklen gestalten. Jeder gesang wird, nach dem er beendet ist, wieder von jenem unsäglichen lärm verabschiedet, es ist ein wechsel zwischen aggression und feinheit.


nachdem der anlass, von dem wir wissen, dass er primär für das publikum inszeniert wird, folgen wir den glockenmännern aus dem dorf hinaus. doch wir sind zu spät, da stehen keine männer mit glocken mehr, sondern nur noch misstrauische gestalten, appenzeller wie aus einem bilderbuch, mit den charakteristischen gekrümmten pfeifen im mund. Ihre blicke scheinen nur zu wünschen, dass wir vorüber gehen, was wir tun. Wir laufen weiter, in der hoffnung, ausserhalb des dorfes, im streubesiedelten land kläuse zu sehen. Was wir gesehen haben, waren nur glockenscheller. Wir sind aber auf der suche nach den silvesterkläusen – diese sind zwar morgen noch, publikumswirksam, im tal, in herisau zu sehen. Doch wir wollen sie bei ihrem gang von haus zu haus beobachten. Dort sind sie dann auch nicht mehr im dunkeln, sondern tragen ihre beleuchtung auf dem kopf. Sie gehen in „schuppeln“, kleineren gruppen von ungefähr 6 mann umher.

Es gibt drei sorten von kläusen: die schönen, die schön-wüsten, die wüsten. Ein Schuppel von schöne Chläus besteht meistens aus sechs, in farbigen Samt gekleideten Männern, zwei Rollli und vier Schelli. Der Rolli trägt Frauenkleidung und eine gewaltige, radförmig Haube. Die Schelli tragen rechteckige Huete und auf Ruecken und Brust je eine Chlausenschelle. In den Nischen der Hauben und auf den Hüten sind in kunstvoller Handarbeit Szenen aus dem dörflichen Leben dargestellt. Tausende von Perlen, alle von Handangenäht, verzieren den einzigartigen Kopfschmuck. Die schö-wüeschten, sind eine mischung aus den schönen und den wüeschten. Sie tragen, wie die wüeschten eine “groscht” also ein kleid aus tannen, stech- und buchenlaub. Auf ihren hüten tragen sie oft auch nachgestellte dorfszenen, im dorf später haben wir auch solche mit ausgestopften tieren gesehen. Den höhepunkt stellen aber deutlich die wüeschten dar. Ihnen fehlt jegliches schmuckwerk. zum teil tragen sie masken, doch oft sehen sie aus wie verwilderte tannenbäume auf der flucht, riesige tannenkriesberge, mitkrude eingeflochtenem tierfell, zum teil mit hörnern. Dort wo die anderen kläuse schmucke szenen tragen ragen bei ihnen wild äste in die luft. Mir gefallen diejenigen, die keine masken tragen, diejenigen, bei denen kein gesicht, keine maske erkennbar ist. Denn genau darin liegt für mich der reiz gegenüber anderen wintervertreibungsbräuchen, wie z.b. der fasnacht und den walliser: die schiere flucht vor dem anthropologischen. Während an anderen bräuchen und auch bei den anderen chlausformen das menschliche noch in der maske wiederholt wird, sehe ich in den wüeschten mehr bäume, gestrüppe herumgehen. Der mensch in ihnen ist nur noch die bewegende kraft und die zarte stimme. Das gibt den wüeschten eine wunderbare ambivalenz. Lärmen sie mt den glocken, so scheinen sie reine naturgewalt zu sein, haufen, in denen sich fleisch unter holz, horn und gestrüpp fortbewegt.




Sie wirken unberechenbar, dampfend, es ist wirklich, als habe sich hier etwas aus den wäldern gelöst. Es ist als seien diese bauern, die in ihren tälern subventionierte, schier wertlose milch produzieren, hier einen pakt eingegangen, den wir nicht nachvollziehen können. Das appenzell ist geprägt von weichen hügeln, wie gemacht für butterwerbung, suggerieren sie doch eine milde geniessbarkeit. Zugleich ist das appenzell auch der ort, an dem das frauenrecht vom bund aufgezwungen werden musste, an dem die langdsgemeinde, also die abstimmung noch öffentlich auf einem platz stattfand, wo man mit früher mit säbeln zustimmung bezeugte und ein ort, an dem der selbstmord im tenn eine äusserst beliebte exit-strategy darstellt. Ist der bauer verschuldet, bringt er den hof nicht mehr aus den problemen hinaus, so wählt er lieber den strick, als seinen angehörigen in die augen zu sehen. Ich habe den eindruck, dass in den wüeschten etwas von einer unnachvollziehbaren brachialität liegt, die sich nicht in jener gewalttätigkeit erschöpft, die den harpyengesichtigen figuren der anderen fasnachtsbräuche inne ist. es ist als ob sich die natur in diesen jungen manner etwas zurückgeholt hätte.
Ein freund von mir wohnt, seit kurzem in herisau, im appenzell, an der grenze des dorfes. Er wohnt ander Johannes baumann strasse. Johannes Baumann war ein appenzeller politiker, von 1934 bis 1943 im bundesrat. Er leitete das departement des äusseren, duldete auch das juden-j, das tausenden den tod brachte. Das quartier meines freundes wird im “herisauer anzeiger” bereits als “ghettoisiert” bezeichnet, zu viele ausländer wohnen schon hier. Der gedanke an diesen umgang mit dem fremden, der mein land, die schweiz, ganz besonders in den ländlichen regionen pflegt, begleitet mich natürlich auch zu den kläusen. Mit unbehagen hörte ich auch von der frau am wurststand, dass in diesen gruppen letztlich meist nur leute mit landwirtschaftlich-verwandtschaftlichem hintergrund aufgenommen würden, ihr sohn, und das ist ein freudiger lichtblick, habe eine eigene gruppe gründen müssen, um am brauch teilnehmen zu können.
geht die ernsthafte pflege von alten bräuchen nicht immer auch einher mit einer abwehr von fremdem, die in der angst vor touristen noch ihre harmloseste ausprägung findet? Wie kann ich das trennen? Wohl nicht. der schauer, der mich diesen gestalten gegenüber so einnimmt, ist vielleicht auch das teilhaben an einer form der selbstäusserung, die sich auf gedeih und verderben mit der eigenen herkunft verstrickt sieht. Ein freund von mir hat mir vom fatalismus einer neueren generation von bergbauern erzählt, die sich weigern, ökonomische kompromisse einzugehen, denen ihr bauer-werden mehr wert ist als rationale überlegungen. Der chlausenbrauch ist in einer grossen wiederbelebungsphase, junge manner feiern den brauch jades jahr, wie der gallerist bruno bischofsberger sagt, “mit inbrunst”. Zeigt sich in diesen figuren nicht jener genuss des verwachsenseins mit dem land seiner herkunft. Hier zeigt sich “verwurzelung” wirklich naturaliter als pures aus dreck, gras und bäumen bestehen.

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es ist beinahe 6 uhr. wir steigen zum tüfenberg hinauf, auf einer asphaltierten strasse. Ab und an kommt ein auto und rast den berg hoch. Beinahe alle scheinen, wie wir schnell feststellen, vor einem bauernhof zu halten. Dort drin scheinen sie sich zu versammeln. Wir versuchen durch die fenster in den stall zu sehen, doch darin gibt es nichts als kühe. Wir wollen warten, bis “sie” herauskommen, bis sie sich aufmachen. Doch es regent in strömen, wir können nicht stehen bleiben, es friert uns. Also gehen wir weiter, den rückzug zu einem weiteren touristisch gesicherten anlass schlagen wir aus. Plötzlich hören wir glockengebimmel am hang. Durch den schall ist es nicht erkennbar, woher der klang genau kommt. Doch dann sehen wir die lichter. Eine “schuppel” schö-wüeschter steht vor einem bauernhof und fängt an zu singen. Vor ihnen steht der bauer, der diese form der segnung seines hauses entgegennimmt. Ich fühle mich wie ein eindringling, fürchte mich davor, verjagt zu werden. Der anblick ist wunderschön und er ist nicht für uns gedacht. Die glocken bellten hier gegen die geister an, der gesang soll das haus schützen. Nach jedem lied dankt der bauer, die figuren trinken glühwein durch schläuche. Mir ist, als ob der bauer die fguren umarmen würde, so nahe steht er den hühnen. Immer wieder werden die glocken geschüttelt, und ein lied angestimmt, das ritual dauert sicher eine halbe stunde. Es ist etwas vom schönsten, was ich je gesehen habe.

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